Fassbinders „Katzelmacher“ in der Goetheschule
Links auf der Bühne der Boxsack: ohne Stimme, ohne Sprache; ein Spielball seiner Umgebung, nur in Bewegung, wenn auf ihn eingedroschen wird. Auf dem Boxsack mit Tapeband Augen, Nase, ein Mund, die ihm entfernt menschliche Züge verleihen. Ein Prügelknabe, der dazu dient, die Aggressionen anderer zu absorbieren, der sich nicht wehren kann, wenn andere ihren Frust ablassen wollen, ein Gegenstand, über den jeder Macht haben kann. Dieser geniale Regiekunstgriff steht für die Titelfigur „Katzelmacher“, den Gastarbeiter aus Griechenland, und symbolisiert seine Situation in der deutschen Provinz, wo er für Dumpinglöhne den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands befördern soll und dafür von deklassierten Jugendlichen mit Verachtung, Anfeindung und Gewalt gestraft wird.
Die Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Stück erlebte unter der Leitung von Holger Warnecke im Oktober und November zahlreiche furiose Aufführungen in der Aula der Goetheschule und im Klecks-Theater. Auf der Bühne neben dem Sandsack sechs Schauspielerinnen, die allesamt in mehreren Rollen brillieren können. Sie stellen zum einen verschiedene Jugendliche dar, gelangweilt und perspektivlos in ihrer Heimat, die ihre Zeit mit Alkohol, Sex und gegenseitigen Demütigungen vertändeln. Zusammen bieten sie ein Panoptikum der Hoffnungslosigkeit. Da ist zum Beispiel Erich, gespielt von Cassandra Schwerter, der breitbeinig mit Machogehabe und prolligen Sprüchen Dominanz auszudrücken versucht, da ist Marie, gespielt von Marlene Mesa, die sich von einer Gesangskarriere einen Ausbruch aus ihrer trostlosen Umwelt verspricht, aber aufs Kreuz gelegt wird, und die sich in Jorgo, den Gastarbeiter verliebt und mit ihm nach Griechenland gehen will, weil alles besser ist als die Tristesse der Provinz; da ist die lästernde Gunda und Paul (beide gespielt von Marisol Adler), der Erich in seinem Hass anstachelt, und da ist Helga (Kimberley Lengies), die immer lautstark mitmischt. Als einziger hat Bruno, gespielt von Mona Wöhleke, eine Arbeit in der örtlichen Tütenfabrik, doch ist auch er ein Gedemütigter, der von der Fabrikbesitzerin Elisabeth wie ein Hund und Lustknabe gehalten wird.
Überhaupt Elisabeth: Die Fabrikbesitzerin, maliziös gespielt von Laure Dreano-Mayer, sitzt die meiste Zeit wie eine Königin in der Mitte der Bühne und lächelt süffisant über den Pöbel, der in einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht von ihr redet, weil sie „es“ geschafft hat. Dem Zuschauer wird schnell klar, Geld regiert die Welt. Für sie steht das Piccolöchen bereit, während der Rest sich flaschenweise mit billigstem Bier betäubt, um die eigene Ohnmacht zu vergessen. Und dann kommt der Ohnmächtigere, der Schwächere, der Fremde, und die Frustration kanalisiert sich, aber nicht gegen Elisabeth, die Ausbeuterin, die selbst ihren Geliebten Bruno für wenig Geld schuften lässt. Nein, Druck wird am leichtesten nach unten abgelassen, diesen Mechanismus der menschlichen Seele führt uns Regisseur Holger Warnecke meisterhaft vor Augen. Der „Katzelmacher“ muss dran glauben, „damit es wieder eine Ordnung hat“, wie die Jugendlichen sich ausdrücken. Welche Ordnung damit wieder hergestellt wird, ist die bedrückende Frage, die im Raum stehen bleibt. Übrigens zeichnet Fassbinder nicht ein naives Bild vom „hässlichen“ Deutschen und dem guten Gastarbeiter. Als der Grieche Jorgo hört, dass bald als weiterer Gastarbeiter ein Türke kommen soll, weigert er sich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Jeder Mensch hat sein Fremdes. Die atmosphärisch dichte Inszenierung überzeugt durch das einfallsreiche Bühnenbild, in der z.B. eine Dixi-Toilette zur Kneipe wird, in der sich die Jugendlichen Abwechslung suchen, und den Elan der Schauspielerinnen. Ein großes Lob an Claudia Nowotny und Rainer Söll für die Ausstattung.
Fassbinder im Jahr 2019? Ein letztes Aufbäumen des 68er-Geistes zur Unzeit? Mitnichten hat das Stück von 1969 an Aktualität verloren. Die Darstellung des Alltags der Jugendlichen wirkt nicht veraltet. Es gibt dieses Milieu in unserer Gesellschaft. Und es ist ein Leichtes, den Gastarbeiter der 60er-Jahre gegen den Flüchtling von heute auszutauschen, den Fremden, der rasch zur Projektionsfläche für all die Resignation, die Wut und den Frust wird, die sich in der Gesellschaft aufstauen. Egal wie weit unten man steht, mit dem Fremden hat man immer jemanden, der noch weiter unten steht, einen Sündenbock, der von eigener Verantwortung entlastet und der einem hilft, sich überlegen zu fühlen. Jemanden, den man so verwenden kann wie das, was auf der Bühne steht: einen Boxsack.
Text: Stefan Schulz
Fotos: Kai Kämmerer