Zum zweiten Mal war das Auswandererhaus Ziel eines Workshops der Besonderen Begabungen an der Goetheschule. 17 Goetheschüler waren dabei.
Boat-People in Bremerhaven
Beim Eintritt in die Wartehalle der Columbuskaje beschleicht die 17 Goetheschüler ein bisschen Beklemmung – schummrige Beleuchtung, abgewetzte Holzbänke, ein Kanonenofen, der virtuelle Wärme verbreiten soll, die sich aber nur schwer einstellen will. Dann öffnet sich die Tür und gibt den Zugang auf die Kaje frei, auf der bereits eine Gruppe von Auswanderern zwischen Gepäckstücken, Fässern und Kisten darauf wartet, über eine Gangway das Auswandererschiff betreten zu dürfen. Hinter dem stählernen Rumpf des Schiffes arbeitet die Dampfmaschine, Wasser tropft von den Decks. Die Goetheschüler mischen sich unter die Menschen mit der antiquiert anmutenden Kleidung. Die Chipkarte des Museums auf ein Gepäckstück der Wartenden oder auf einen Poller gelegt, lässt sie teilhaben an deren Gesprächen in denen sich die Ängste vor diesem Schritt in die Fremde, aber auch die damit verbundenen Hoffnungen artikulieren.
Der Gang ins Schiffsinnere macht die Reisebedingungen der Auswanderer zu unterschiedlichen Zeiten erfahrbar: Die räumliche Enge der billigsten Klasse mit in den Fußboden eingelassenen Käfigen für lebende Hühner als Reiseproviant für die Überfahrt gedacht, aber auch die wesentlich luxuriöser ausgestatteten Schlafräume und Speisesäle der Ersten Klasse. Angekommen auf der Insel Ellis Island gegenüber Manhattan mussten die Auswanderer eine peinliche Befragung über sich ergehen lassen, von deren Ergebnis erst die Entscheidung über eine Einreiseerlaubnis in die Vereinigten Staaten abhing.
Jeder Teilnehmer hatte die Aufgabe sich in der „Galerie der 7 Millionen“ über das Schicksal eines Auswanderers zu informieren. In dem mit „Familienrecherche“ bezeichneten Raum konnten die Goetheschüler dann nach eigenen Verwandten und Vorfahren suchen, wenn sie über Bremerhaven ausgewandert waren. Erstaunlich viele wurden bei dieser Recherche fündig.
Am zweiten Tag begab sich die Reisegruppe aus Hannover auf eine Weltreise, und zwar entlang der Längenhalbkreise 8° und 171° West. Dass man dabei die Temperaturunterschiede zwischen der südlicher Sahara, Tropischem Regenwald in Kamerun und der Antarktis „hautnah“ erfahren kann, ist schon beeindruckend. Aber auch über die Lebensweisen der Menschen in diesen verschiedenen Klimazonen wird informiert und auch darüber, wie diese Lebensweisen und konkreter, die dort lebenden Menschen, heute gefährdet sind, z.B. durch die großflächige radioaktive Verseuchung der Umwelt in der Südsahara, resultierend aus dem Abbau von uranhaltigen Erden und Gesteinen. Wer wollte, konnte in einem Thermoanzug einen Ausflug in die Eiswüste der Antarktis unternehmen, oder am Strand des pazifischen Samoa in einem Liegestuhl unter einem Palmblätterdach eine „Auszeit“ während der anstrengenden Weltreise unternehmen.
Das Klimahaus bot aber neben diesem Reiseerlebnis auch die Möglichkeit in einem Tagungsraum mit angeschlossener Bibliothek die Reiseeindrücke festzuhalten und entsprechende Präsentationen für die Begabtentage vorzubereiten.
Der dritte und letzte Tag in den Hafenwelten war ganz dem Schiffbau und der Schifffahrt gewidmet. Auch im Deutschen Schifffahrtsmuseum gab es viel Neues zu entdecken, so z.B. die Herkunft der Bezeichnung „Brücke“ für die Kommando- und Leitzentrale eines Schiffes. Auf den ersten Dampfschiffen hatte man tatsächlich von der Steuerbord- zur Backbordseite eine Brücke über das Hauptdeck gebaut, auf der Kapitän, Schiffsoffiziere und Steuermann Ihre Aufgaben wahrnahmen. Ein solches frühes Dampfschiff, der Passagierdampfer „Meissen“ ist nebst seiner Dampfmaschine im Museum als Teilaufbau erhalten. In der Feuerkammer wurde unvorstellbar geschuftet. Der „Trimmer“ musste bei schlechter Beleuchtung und Belüftung, bei großer Hitze, bei Staub und Lärm unentwegt die Kohlen heranschleppen, ca. 250 Kilogramm pro Stunde, mit denen der Heizer die Kessel befeuern und immer wieder von Schlacken und Asche befreien musste. Kein Wunder also, dass es in dieser menschenfeindlichen Umgebung oft zu Unfällen kam, dass schwere Krankheiten wie Tuberkulose oder Staublunge auftraten. Oft schon nach 10 Jahren wurden diese Männer zu Invaliden und mussten ihre Arbeit aufgeben. Manch einem erschien Selbstmord als der einzige Ausweg.
Interessant war auch das Archiv über besondere Schiffpassagen. Am Kap Hoorn war vor allem die Passage vom Atlantik zum Pazifik gegen die Westwinddrift gefährlich und schwierig. Es forderte von den in diese Richtung segelnden Schiffen ein ständiges Kreuzen bei hoher See und Regen, Kälte, schlechter Sicht und Eisbergen. Am längsten brauchte das Vollschiff Susanna, dessen Kapumsegelung 1905 im südlichen Winter 99 Tage dauerte. Während dieser Zeit erkrankten 18 von 66 Besatzungsmitgliedern so schwer, dass sie über Wochen nicht einsatzfähig waren. Sechs Seeleute starben. Schätzungen zufolge wurde die See vor Kap Hoorn mehr als 800 Schiffen und mehr als 10.000 Menschen zum Verhängnis und zum größten Schiffsfriedhof der Welt.
Angefüllt mit einer kaum überschaubaren Menge an Informationen traten die BBler gegen 16.00 Uhr die Heimreise nach Hannover an. Sie erreichten, wie in Erfahrung gebracht werden konnte, glücklicherweise ohne Skorbutfälle, bei günstigen Winden, ruhiger See und ohne kreuzen zu müssen gegen 17.50 ihren Heimathafen Hannover.
Walter Schedlinsky